Mittlerweile bin ich schon wieder seit 3,5 Wochen in der Joybells School & Orphanage im Norden von Indien – Zeit genug, dass sich ein Gefühl des Angekommen-Seins eingestellt hat und sich erste Routinen entwickeln. Ja, ich kann wohl behaupten, dass ich einen neuen Alltag habe. Wie der aussieht? Zunächst einmal, dass spätestens morgens um 6.00 Uhr der Wecker klingelt, wenn ich nicht sowieso schon vorher von selbst wach bin – was eigentlich immer der Fall ist. Trotzdem stelle ich noch immer in kontrollierender Manier den Wecker – nur zur Sicherheit. Man kann ja nie wissen ;-) Mal sehen, ob ich das mit zunehmender Gelassenheit bzw. dem Vertrauen auf meine innere Uhr irgendwann im wahrsten Sinne des Wortes abstelle.
Anders als zu Hause fällt es mir hier überhaupt nicht schwer, früh aufzustehen, um mit den Kindern eine Runde Morgensport zu machen. Wir haben die morgendliche Joggingrunde um das Fußballfeld her um mit anschließender kurzer Yogaeinheit eingeführt, um uns auf eine zweiwöchige Expedition in die Berge vorzubereiten. Auf die Frage von SS Singh, ob ich sie nicht auf eine schon von langer Hand geplante Expedition Ende September begleiten möchte, habe ich natürlich spontan und aus vollsten Herzen zugesagt. Mit so einem Ziel vor Augen lassen sich die Runden morgens leichter drehen. Noch dazu ist es hier in den frühen Morgenstunden noch angenehm frisch – obwohl wir mitten in der Natur sind, umgeben vom Dschungel und den Bergen, heizt sich die Luft nach 9.00 Uhr merklich auf und es entsteht eine drückende Schwüle. Insofern gleicht das Leben hier dem der Südländer in Europa – mittags wird nach dem Lunch erst mal Siesta gemacht, um den heißesten Stunden des Tages zu entfliehen.
Aber zurück auf Start: nach dem Morgensport und einem stärkenden Frühstück (manchmal sogar mit noch dampfend-frischen Pancakes – ein Traum!), heißt es um 8.00 Uhr dann aufstellen zur Morgen-Assembly – der gemeinsame Start in den Schultag, in dem der Sinn für Disziplin und Ordnung vollsten zur Geltung kommt. Exakt aufgestellt in Reih und Glied, die Schuluniform sauber und perfekt sitzend werden Gebete und Lieder rezitiert, um schließlich immer mit der indischen Nationalhymne zu enden. Ich frage mich, warum sich dieser Hang dann eigentlich nicht im indischen Alltag und der Kultur wieder spiegelt, wo er doch im Schulsystem in Perfektion gelebt werden muss. Auf staatlichen Schulen noch mal potenzierter als in Joybells, da hier die oberste Maxime lautet, dass die Kinder voller Liebe zu Selbstverantwortung und Mitsprache erzogen werden. Sie sollen darüber hinaus auch die Vielfalt aller Kulturen und Religionen kennen- und tolerieren lernen, so dass die Morgen-Assembly aus einer wilden Mischung ladakhischer Lieder, hinduistischer und christlicher Gebete besteht. Die wechselnden Volunteers aus unterschiedlichen Ländern tragen natürlich auch zu einem übergreifenden Kulturverständnis bei, mit dem die Kinder hier wie selbstverständlich aufwachsen. Irgendwie schon ironisch – auf der einen Seite so viel Weltoffenheit und Wissen, auf der anderen Seite kennen sie nicht mal das Leben außerhalb der Mauern von Joybells und wurden bis dato noch so gut wie nie mit der wirklichen Realität konfrontiert bzw. können sich nicht daran erinnern (die meisten Kinder zuminderst nicht – leider gibt es auch ein paar traurige Ausnahmen, deren eigenen Erfahrungen mit der Realität besser nicht stattgefunden hätten).
Mein Vormittag gestaltet sich dann so, dass ich mich zunächst eine Stunde mit den Kleinsten beschäftige (Kindergartenalter zwischen 4 und 6 Jahre), was das mit Abstand anstrengendste und nervenaufreibendste von allem ist ;-) Danach bin ich froh, eine Stunde bei den Ältesten (13-15 Jahre) zu sein, die über amerikanischen Fernunterricht die Möglichkeit haben, ihren Abschluss online zu erlangen. Hier helfe ich bei individuellen Fragen, wo ich kann – meistens muss ich mich selbst erst einlesen und lerne dabei ebenfalls sehr viel. Ich nutze die Zeit mit den Älteren für mich auch, um sie zu beobachten und besser kennen zu lernen, um ein Gefühl für jeden einzelnen zu entwickeln, das ich dann wiederum fürs Coaching nutzen kann. Danach stehen dann jeweils zwei Deutschstunden mit „Standard 3“ (6-9 Jahre) und „Standard 5“ (9-12 Jahre) an – hier kommen mir meine Trainerskills zu Gute, um den Unterricht so erlebbar und unterhaltsam wie möglich zu machen. Trotzdem schüttel` ich mir das nicht so einfach aus dem Ärmel und bin dann mittags erst mal fix und fertig und Siesta-reif ;-)
Dann geht die eigentliche Arbeit ja erst richtig los, weil ich nachmittags zwischen 15 und 16 Uhr immer das Einzelcoaching mit einem der älteren Schüler habe, was auch vor- und nachbereitet werden will. Am Donnerstag war ich mit der ersten Runde durch und ich finde, dass sie ganz gut gelaufen ist. Hab ihnen das als „career-questionaire“ verkauft – wir haben in den Einzelgesprächen viel über ihre beruflichen Träume, aber auch ihre Stärken und Interessen geredet und gemeinsam reflektiert, in welchen Situationen sie das im Alltag erleben und in Joybells erfahren. Zumindest haben wir es versucht – ich muss gestehen, dass mich der eine oder andere bei mancher Frage auch wie ein Auto angeschaut hat. Klar, was will man in dem Alter von 13-15 teilweise auch erwarten – oder habt ihr da schon gewusst, was ihr beruflich machen wollt (außer dass die Jungs alle von einer professionellen Fußballkarriere träumen) oder was euch wichtig im Leben ist?! In einer Phase wo die Hormone Purzelbäume schlagen und man sich manchmal gar nicht selbst ertragen kann. Naja, ich werde sie damit einfach weiter „nerven“ und hoffen, dass sie doch auch etwas damit anfangen bzw. für sich mitnehmen können. Einige von ihnen haben auch schon sehr konkrete Zukunftsvisionen und -vorstellungen – bei anderen beginne ich mit dem Projekt jetzt eben damit, dass sie anfangen sich Gedanken über ihre Zukunft zu machen. Zumindest ist jeder Einzelne am Ende der Stunde freudestrahlend gegangen und hat mich umarmt – sogar die pubertierenden Jungs – aber vielleicht waren sie auch einfach nur froh, dass die Fragestunde mit der Ollen vorüber ist ;-) Und um gerade zu den Jungs auch einen Zugang zu bekommen, habe ich damit angefangen, bei ihrer nachmittäglichen Lieblingsbeschäftigung – dem Fußballspielen – mitzumachen. Anstrengend und lustig zugleich (für sie wahrscheinlich eher belustigend)…
Freitag stand dann unser erster gemeinsamer „Praxisnachmittag“ an – jeden zweiten Freitag wollen wir das Ganze auch praktisch erlebbar machen und die Kompetenzen trainieren. Was gestern konkret hieß im sogenannten „Leadership-Walk“ zu lernen, jemand anderes zu führen und umgekehrt auch jemanden blind zu vertrauen. War neben einer Menge Spaß auch lehrreich und ich glaube, sie finden Gefallen daran. Zu guter Letzt habe ich ihnen noch eröffnet, dass sie sich ein Projekt überlegen sollen, an dem wir die „Projektmanagemenkompetenzen“ trainieren können. Ich habe ihnen mal die Idee mitgegeben, ein eigene Pharrell Williams „Happy“-Joybells School Version zu produzieren… sprich ein Musikvideo zu drehen, das sie selbst planen müssen, sich eine passende Choreographie überlegen, in der sie auch alle anderen Kinder und Joybells-Mitarbeiter mit einbeziehen können und letztlich dann auch technisch umzusetzen. Ohne mich jetzt selbst zu loben – ich glaube das war ein Volltreffer! :) (vielleicht lobe ich mich an der Stelle auch einfach mal selbst für die Idee, auf die ich schon ein bißchen stolz bin). Für mich wäre das die perfekte Mischung aus Fun, unterschiedlichen Skills (vor allem auch die, die sie mir in den Interviews gesagt haben wie z.B. Organisieren, Interesse an Technik, Begeisterung für Musik und Choreographie, Sportlichkeit) und ein Projekt, bei dem alle beteiligt werden können und es ein konkretes Ergebnis gibt). Sie haben zwei Wochen Zeit, sich das zu überlegen, alternative Ideen zu entwickeln und Freitag in 2 Wochen tagen wir dann das erste Mal als Projektteam und treffen eine Entscheidung. Dann weiß ich mehr und werde euch sicherlich wieder berichten…
Alles in allem also eine erfolgreiche Woche – der Projektauftrag ist gut angelaufen, wie ich finde. Zu guter Letzt kam gestern nach zwei Wochen Joy Singh aus Dehli zurück – und mit ihr im Gepäck drei kleine Hundewelpen – Zuwachs für die Joybells-Familie und eine schöne Wochenendbeschäftigung! Der Umgang mit Tieren und die Fürsorge für sie ist sowieso eine gute Schule für Kinder… mein Coachingkopf rattert schon wieder los ;-) Es steht also gerade alles im Zeichen der Wiedersehensfreude und Jubel, Trubel, Heiterkeit. In diesem Sinne: ein schönes und erholsames Wochenende euch allen!